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Die goldene Generation

Die goldene Generation

von Benjamin Schaper, OGN Sports Correspondent

Als der inzwischen zurückgetretene Kapitän Philipp Lahm letzten Sonntag gegen Mitternacht den goldenen WM-Pokal in den Himmel von Rio reckte, war dies der Höhepunkt und verdiente Lohn einer 14-jährigen Entwicklung.

Das Jahr 2000. Europameisterschaft in Belgien und den Niederlanden. Unter Bundestrainer Erich Ribbeck scheidet die deutsche Nationalmannschaft nach Niederlagen gegen England und Portugal sowie einem Unentschieden gegen Rumänien mit unerträglichem Rumpelfußball in der Vorrunde aus. Das Team überaltet, technisch mangelhaft. Im selben Sommer wird die Weltmeisterschaft 2006 an Deutschland vergeben. Die Furcht vor der Blamage im Heimatland ist allgegenwärtig. Der deutsche Fußball war am Boden.

In die Zukunft investieren  

Der Deutsche Fuβball-Bund (DFB) jedoch reagiert. Und das auf die richtige Weise. Es werden keine übereilten Maßnahmen getroffen, es wird nachhaltig in die Zukunft investiert. In Zusammenarbeit mit der Bundesliga wird ein Programm zur Förderung des Nachwuchses beschlossen. Die Clubs verpflichten sich, vermehrt junge Talente einzusetzen, die Zusammenarbeit bei der Ausbildung wird optimiert, der DFB baut seine Nachwuchszentren aus, die Trainerausbildung wird in professionelle Strukturen gegossen. Noch etwas ändert sich gravierend: lag der Fokus bisher darauf, junge Spieler hauptsächlich athletisch zu schulen, realisierten die zuständigen Entscheidungsträger beim DFB, dass internationale Wettbewerbsfähigkeit zukünftig nur über verbesserte technische und taktische Fähigkeiten erreicht werden kann.

Glücklicherweise ließ man sich von der Finalteilnahme der Weltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea nicht blenden. Der junge Miroslav Klose schoss Deutschland zum Gruppensieg, der zum damaligen Zeitpunkt beste Torwart der Welt Oliver Kahn und die Kopfballtore Michael Ballacks sicherten die drei 1:0 Siege in der Finalrunde. Gegen zweitklassige Gegner. Im Finale gegen Brasilien war man chancenlos. Spielerisch unterlegen und ohne den gesperrten Ballack ohne die nötige Durchschlagskraft im Mittelfeld.

Wendepunkt in Portugal

Trotz eines weiteren Ausscheidens in der Vorrunde stellt die EM 2004 in Portugal einen Wendepunkt dar. Im Kader standen zum ersten Mal bei einem großen Turnier die 20-jährigen Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger sowie der 19-jährige Lukas Podolski. Dies markiert auf zweierlei Weise ein Umdenken im deutschen Fußball. Erstens setzt man zum ersten Mal seit Jahren auf die langfristige Perspektive der Jungspieler und nicht auf den kurzfristigen Erfolg bei einem Turnier. Zweitens läutet die Nominierung der drei Jungstars die Ankunft der nun vergoldeten Generation des deutschen Fußballs ein. Einer Generation, die spielerisch mit ihren Anführern  Schweinsteiger und Lahm, zwei der taktisch brillantesten Strategen ihrer Zeit, weltweit neue Standards setzen sollte.

2006 spielte man bei der Heimweltmeisterschaft begeisternden Fußball. Rannte aber gegen die abgeklärten und intelligenten Defensivspezialisten aus Italien ins offene Messer. Die wichtigste Entscheidung fand allerdings sowieso außerhalb der WM-Arenen statt. 2006 wurde Matthias Sammer, der bisher letzte Deutsche, der zu Europas Fußballer des Jahres gewählt wurde, zum Sportdirektor des DFB ernannt. Ohne Sammer, inzwischen Sportchef des FC Bayern, wäre der Titel 2014 nicht möglich gewesen. Der gebürtige Dresdner revolutionierte die Talentausbildung beim DFB. Führte neue Ausbildungsmodi ein, die die Nachwuchsförderung in Deutschland weltweit zum Vorbild werden ließen.

Das erste Zeichen für den Erfolg dieses Modells zeigte sich 2009. Jedoch nicht bei der A-Nationalmannschaft, die verdientermaßen 2008 Spanien im EM-Finale von Wien unterlegen war, sondern bei der U-21 Europameisterschaft in Schweden, die von Deutschland gewonnen wurde. Die Leistungsträger dieses Teams: Manuel Neuer, Mats Hummels, Jerome Boateng, Benedikt Höwedes, Sami Khedira und Mesut Özil. Allesamt Stammspieler bei der Weltmeisterschaft in Brasilien.

Kurz nach der Europameisterschaft 2012 dann die Sensation in München: Matthias Sammer wechselt als Sportdirektor vom DFB zu den Bayern. Die letzten Prozente sollen herausgeholt werden. Der mittlerweile seit zwei Jahren anhaltende Konkurrenzkampf mit Borussia Dortmund gipfelt im allerersten deutschen Champions League Finale in London. Der große internationale Titel war auf Vereinsebene gewonnen. Die deutschen Mannschaften hatten die europäische Konkurrenz in jenem Jahr abgehängt, internationale Klasse und Wettkampfhärte bewiesen. Und vor allem: das Gerüst beider Mannschaften bildeten deutsche Spieler. Lahm, Schweinsteiger, Neuer, Kroos, Müller, Boateng auf Bayern-Seite. Hummels, Reus, Götze, Gündogan und Bender auf Dortmunder-Seite. Jetzt musste nur noch die Nationalmannschaft nachziehen.

Vorbereitung auf Brasilien

Die Vorbereitung auf das Turnier in Brasilien war von Rückschlägen geprägt. Lahm, Schweinsteiger, Khedira und Neuer kamen verletzt ins Trainingslager in Südtirol. Stürmer Mario Gomez wurde nach einer von Verletzungen geprägten Saison gar nicht erst eingeladen. Supertechniker Ilkay Gündogan konnte über die gesamte Saison nur ein Bundesligaspiel bestreiten. Während des Trainingslagers musste Lars Bender abreisen, kurz vor der Abreise nach Brasilien dann noch der große Schock: Marco Reus, der wohl beste Spieler der abgelaufenen Bundesligasaison, muss abreisen. Eine WM-Teilnahme ist nach einem Teilriss des Syndesmosebandes ausgeschlossen.

Doch die Mannschaft lässt sich nicht beirren. Und vor allem nicht ihr Trainer. Jogi Löw muss in der Gruppenphase viel Kritik einstecken. Aber er hat einen Plan. Baut die verletzten Schweinsteiger und Khedira nach und nach ein. Opfert dafür mit Philipp Lahm den besten Rechtsverteidiger der Welt und zieht ihn auf die Stammposition der beiden angeschlagenen zentralen Mittelfeldspieler. Überragender Spieler der Vorrunde: der Münchner Stürmer Thomas Müller. Der einzigartigste Fußballer der Welt knüpft nahtlos an das Turnier von 2010 an, bei dem er sowohl zum besten Jungspieler der WM als auch zum Torschützenkönig wurde.

Eine neue Epoche des Fuβballs

Das Achtelfinale gegen Algerien war ein schwaches Spiel, aber eines, das eine neue Epoche des Fußballs einleiten sollte. Dies lag an einem Mann: Torwart Manuel Neuer. Neuers Leistung in diesem Spiel ist der Beginn einer neuen Ära das Torwartspiels. Der moderne Libero ist nun der Torwart. Mehrmals riskierte Neuer Kopf und Kragen, um in höchster Not weit vor seinem Tor zu klären. Spätestens in diesem Spiel manifestiert sich der Mythos Neuer. Wer weiß, ob Gonzalo Higuain im Finale so überhastet abgeschlossen hätte, wäre nicht der überragende Neuer im Tor gestanden. Natürlich wurde Neuer zum besten Torhüter des Turniers gewählt. Die Wahl zum besten Spieler hätte er verdient gehabt.

Der Klassiker gegen Frankreich. Viertelfinale im legendären Maracana-Stadion von Rio de Janeiro. In diesem Spiel zementiert sich die Stammformation der deutschen Elf: Neuer – Lahm, Boateng, Hummels, Höwedes – Schweinsteiger, Khedira, Kroos – Müller, Özil, Klose. Deutschland kann seine Leistung steigern. Zwar muss Neuer gegen starke Franzosen noch das ein oder andere Mal retten, der Spielplan der Deutschen geht jedoch auf. Ein verdienter Sieg in einem hartumkämpften Spiel. Das Tor von Hummels nach einem Freistoß. Die Effektivität, die in den vergangenen Turnieren noch gefehlt hatte, ist jetzt da.

Dies zeigt sich vor allem im Halbfinale gegen den Gastgeber. Wie die Deutschen 2006 gegen Italien liefen die Brasilianer naiv ins offene Messer. Die taktische und spielerische Dominanz der Deutschen sichert den historischen 7:1 Sieg. Doppeltorschütze und Passmaschine Toni Kroos macht das Spiel seines Lebens. Leider verliert ihn die Bundesliga an Real Madrid.

Finale

Das Finale von Rio war ein Spiel auf Augenhöhe. Die Argentinier lieferten zum richtigen Zeitpunkt ihre beste Leistung der Weltmeisterschaft ab. Angeführt von Superstar Lionel Messi und Mittelfeldchef Javier Mascherano boten die Argentinier den Deutschen mit einer soliden Abwehr und brandgefährlichen Kontern die Stirn. Bei den letzten großen Turnieren hatte man solche Spiele verloren. Dieses Mal jedoch merkte man, dass die goldene Generation um Lahm und Schweinsteiger erkannt hatte, dass dieses Spiel ihre letzte Chance auf den großen Nationalmannschaftstitel war. Taktisch gereift, spielerisch intelligent ließ Deutschland keinen einzigen direkten Torschuss auf das eigene Tor zu. Es war ein Sieg der Mannschaft, aus der drei Akteure herausragen: natürlich Mario Götze, der Schütze des phänomenalen Siegtors. Nicht so sehr wegen seiner Gesamtleistung als wegen dieses brillanten Moments. Dieses Tor steht für die Kehrtwende im deutschen Fußball. Ein Spieler der jungen, hervorragend ausgebildeten Generation schießt ein technisch höchstklassiges Tor. Auch dank der Motivation von Trainer Löw, der ihm bei seiner Einwechselung mit auf den Weg gab, der Welt endlich zu zeigen, dass er besser ist als Messi, reiht sich das deutsche Jahrhunderttalent in die Liste der anderen deutschen WM-Siegtorschützen ein: Helmut Rahn, Gerd Müller und Andreas Brehme. Dann, Jerome Boateng mit der besten Leistung seiner Karriere. Oftmals wackelte der Bayern-Verteidiger während der letzten Bundesligasaison, Mats Hummels war bis dato der beste Innenverteidiger des Turniers, doch im Finale war es Boateng, der den ausgepumpten Hummels mitriss, der wie kein anderer in den letzten Jahren Lionel Messi fair abgrätschte und die Verteidigung zusammenhielt. Und zuletzt der Spieler des Finales. Das Spiel war ein Sinnbild für Bastian Schweinsteigers gesamte Karriere. Viele (Rück-)Schläge musste er einstecken, ging blutend und geschunden vom Platz, doch kam immer zurück. Nach einem Schlag von Aguero lief Blut über Schweinsteigers Gesicht, die Auswechslung stand bevor, doch Schweinsteiger signalisierte, dass er auf jeden Fall weiterspielen wird. Er lief auf den Platz mit einer unglaublichen Präsenz, forderte den Ball in der eigenen Hälfte, ein Ruck ging durch die Mannschaft, der Leader ging voran, Schweinsteiger setzte das Beispiel, das den letzten Motivationsschub durch die Mannschaft sandte, kurz darauf kam Götzes magischer Moment.

Die nächste Generation

Philipp Lahm tritt nun aus der Nationalmannschaft zurück, auch Schweinsteiger, Klose, Podolski und Mertesacker werden nicht mehr allzu viele Turniere spielen. Doch anders als noch vor 14 Jahren steht die nächste Generation bereit - einige der besten Spieler des Landes waren bei der WM verletzungsbedingt nicht im Kader. Ob Joachim Löw Bundestrainer bleibt, ist noch ungewiss. Gewiss ist jedoch: dieser WM-Sieg ist sein Triumph und der seines Teams. Die Krönung eines Weges, der 2006 begann und dann trotz zahlreicher Tiefen stets konsequent weitergegangen wurde. Daher war es richtig, als Löw bei der abschließenden Pressekonferenz sagte, dass den Titel keine Mannschaft so sehr verdient habe, wie seine eigene.

                                                       

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